Kubas Kampf gegen Corona: Über die erfolgreiche Entwicklung eigener Impfstoffe und das Immunisieren inmitten der US-Blockade. Ein Gespräch mit Luis Herrera. Interview: Frederic Schnatterer
Seit über einem Jahr kämpft die Welt gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. Wie auch andere Länder wurde Kuba vom Ausbruch der Pandemie überrascht. Wie wurde zuerst versucht, die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen?
Während der ersten Etappe der Pandemie wurde auf Distanzhalten, die Isolierung infizierter Menschen, auf das Tragen von Mund-Nasen-Schutz, auf das Vermeiden von Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen und so weiter gesetzt. Diese Maßnahmen haben sich als sehr effektiv herausgestellt. Wir haben die Infektionsrate gut kontrolliert. Dafür war es auch nötig, die Grenze praktisch zu schließen, so dass keine infizierten Personen einreisen konnten.
Sie arbeiten als wissenschaftlich-kommerzieller Berater des Präsidenten der Unternehmensgruppe Bio-Cuba-Farma. Wie wurde bei Ihnen auf den Ausbruch der Pandemie reagiert?
Ab dem Zeitpunkt, als die Weltgesundheitsorganisation vor Covid-19 warnte, haben wir uns mit der damals noch völlig unbekannten Krankheit auseinandergesetzt. Dabei halfen uns von Beginn an auch die Einschätzungen der Behörden der Volksrepublik China. Da es in Kuba zunächst nur wenige Fälle gab, bestand unsere erste Reaktion darin, die Genossen in China über mögliche alternative Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. Beispielsweise mit Beta-Interferon, einem Medikament, das bereits seit Jahren in Kooperation mit China in der Volksrepublik produziert wurde. Die Behandlung mit Beta-Interferon war erfolgversprechend, da das Medikament bei Infektionen angewendet wird, die Ähnlichkeiten mit der von SARS-CoV-2 ausgelösten Krankheit aufweisen.
Nachdem in Kuba schon bald Infektionen nachgewiesen worden waren, mussten die Anstrengungen im Kampf gegen Covid-19 auch im Land selbst verstärkt werden.
Neben der Entwicklung von Behandlungsansätzen fokussierten wir von Beginn an auch auf den Ausbau der Möglichkeiten, Covid-19 zu diagnostizieren. Dabei konnten wir auf bereits bestehende Infrastruktur zurückgreifen. Im ganzen Land wurden beispielsweise die Voraussetzungen für die Durchführung von PCR-Tests geschaffen, mit denen standardmäßig Coronainfektionen festgestellt werden können. Wir konnten erreichen, bei der Diagnostik von Covid-19 nicht auf andere angewiesen zu sein – von der Entnahme der Proben bis hin zu ihrer Untersuchung.
Nachdem die Zahlen 2020 in Kuba recht niedrig waren, gingen sie spätestens zu Beginn des Jahres 2021 hoch. Wieso der Anstieg?
Mitte November des vergangenen Jahres wurden die Flughäfen des Landes wieder geöffnet. Wie es aussieht, hat sich das Virus – auch durch neue Mutationen – in einigen Regionen des Landes daraufhin wieder verstärkt ausgebreitet. Andererseits muss aber auch betont werden, dass die Sterblichkeitsrate in Kuba sehr gering gehalten werden konnte – weit unter der aller anderen Länder unserer Region. Zusätzlich wurde ein Reha-Programm für diejenigen gestartet, die an Covid-19 erkrankt waren und an Folgeerkrankungen leiden. Hinzu kommt die Entwicklung mehrerer Impfstoffe gegen das Coronavirus seit dem Ende des vergangenen Jahres.
Sie sprechen die Entwicklung eigener Impfstoffe an. Wie lief das ab?
Kuba verfügt über viel Erfahrung in der Entwicklung und Produktion von Impfstoffen. Über viele Jahre grassierte in Kuba eine Meningitis-Epidemie (Hirnhautentzündung, jW). Bereits in den 1980er Jahren konnte ein Impfstoff gegen Meningitis Typ B entwickelt werden. Dieses Vakzin ermöglichte es, die Krankheit effektiv zu bekämpfen; heute ist sie in Kuba vollständig unter Kontrolle. Zudem wurde der Impfstoff erfolgreich in einer Reihe lateinamerikanischer Länder eingesetzt, so in Brasilien und Argentinien. Gemeinsam mit Brasilien konnten wir später einen ähnlichen Impfstoff, ebenfalls gegen Meningitis entwickeln, der auch in afrikanischen Ländern eingesetzt wurde.
Ende der 90er Jahre konnten wir einen Impfstoff gegen Hepatitis B entwickeln – das erste Vakzin aus Lateinamerika, das von der WHO zugelassen wurde. Mittlerweile verfügen wir über eine große Anzahl an in Kuba entwickelten Impfstoffen. Das zeigt: In Kuba existiert seit langem eine wissenschaftlich-technische Infrastruktur für die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen.
Auf diesen Erfahrungen konnte also bei der Entwicklung der Impfstoffkandidaten gegen Covid-19 aufgebaut werden. Die von manchen bürgerlichen Medien in die Welt gesetzte Legende eines »kubanischen Wunders« stimmt also nicht?
Ja, aufbauend auf diesen Erfahrungen sowie der technischen Infrastruktur haben wir praktisch direkt mit Ausbruch der Pandemie damit begonnen, mögliche Impfstoffe zu erforschen. Ohne ein solches Fundament, das Sie wissenschaftlich und technologisch beherrschen, das sicher ist, gehen Sie mit etwas an den Start, das nicht dem entspricht, was eine Pandemiesituation, sprich: ein Notfall, erfordert. Wie bei zuvor von uns entwickelten Impfstoffen setzten wir bei der Rezeptorbindedomäne, der RBD, an. Das ist der Ort, an dem das Spikeprotein des Virus an den Rezeptor der Zelle andockt. Dieses Protein – gewonnen sowohl aus Zellen von Säugetieren als auch aus Hefebakterien – ist die wissenschaftliche Basis für die fünf kubanischen Impfstoffkandidaten »Soberana 1«, »Soberana 2«, »Soberana plus«, »Mambisa« und »Abdala«.
Sie sprechen von Impfstoffkandidaten. Das heißt, die kubanischen Vakzine gegen Covid-19 sind noch nicht zugelassen. In welcher Phase der Erprobung befinden sie sich gerade?
Sowohl die »Soberana«-Impfstoffe als auch »Abdala« sind schon sehr weit fortgeschritten. Es wurde bereits die entsprechend dem Studiendesign vorgesehene Menge an Impfdosen verabreicht. Nun gilt es abzuwarten, bis wahrscheinlich Anfang Juni die benötigten Ergebnisse vorliegen und wir eine endgültige Bewertung der Wirksamkeit der Vakzine abgeben können. Allerdings ist festzuhalten, dass wir bereits in den Studienphasen eins und zwei sehr gute Resultate feststellen konnten. Auch die Nebenwirkungen waren äußerst gering, die Präparate sind also sehr sicher.
Weltweit werden bereits mehrere Impfstoffe gegen Covid-19 verabreicht. Warum hat sich Kuba für die Entwicklung eigener Kandidaten entschieden?
Weltweit gibt es mittlerweile eine Reihe von Impfstoffen, die in verschiedenen Ländern eine Notfallzulassung bekommen haben und auch verabreicht werden. Die meisten dieser Impfstoffe wurden in den USA oder der Europäischen Union entwickelt. Hätten wir in Kuba nicht auf unsere Erfahrungen zurückgreifen können, wäre die Entwicklung eigener Vakzine keine Option gewesen. Unter den gegebenen Umständen war uns aber von Beginn an klar, dass ein solches Projekt durchaus Chancen auf Erfolg haben würde.
Hinzu kommt: Kuba befindet sich in einer Situation, die geprägt ist durch die Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockade der Vereinigten Staaten. Es bestehen mehr als 240 Sanktionsmaßnahmen gegen Kuba, die Blockade wurde in den vergangenen Jahren brutal verschärft. Da die meisten Impfstoffe entweder unter direkter Kontrolle der USA und US-Einrichtungen oder von US-Interessen beeinflussten Konzernen produziert werden, war es unwahrscheinlich, dass wir einfach Zugang zu ihnen bekommen würden.
Die bisher vorliegenden Studienergebnisse unserer Impfstoffkandidaten lassen uns davon ausgehen, dass sich die Anstrengungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gelohnt haben. Wir haben mit größtmöglichem Einsatz Vakzine entwickeln können, die auf sichere und wirksame Weise in der Lage sein werden, diese Krankheit zu bekämpfen. Wir sind sehr nah dran, zu beweisen, dass die von uns getroffene Entscheidung die richtige gewesen ist.
Nun wurden in Kuba bislang fünf verschiedene Impfstoffkandidaten gegen Covid-19 entwickelt. Hätte nicht ein wirksames Vakzin gereicht?
Zu Beginn der Impfstoffentwicklung stand fest, dass unsere Vakzine die Rezeptorbindedomäne des Spikeproteins des Coronavirus als zentrales Element nutzen würden. Das leitete sich logisch aus unserer technologischen Erfahrung ab. Andere Eigenschaften der zukünftigen Impfstoffe waren hingegen nicht vordefiniert, sondern Gegenstand von Tierversuchen sowie ersten klinischen Studien der Phasen eins und zwei. Das hat uns erlaubt festzustellen, welches die effektivsten Impfstoffvarianten sein könnten.
»Mambisa« beispielsweise ist ein Präparat, das über die Schleimhaut funktioniert. Eine solche Funktionsweise würde sich sehr positiv auf die Verringerung der Ausbreitung des Virus und damit auf das Infektionsgeschehen auswirken. »Soberana plus« ist für die Behandlung von Genesenen geeignet. Damit können also Menschen geschützt werden, die während ihrer Infektion nicht ausreichend Resistenz aufgebaut haben. Mit anderen Worten: Die von uns entwickelten Impfstoffe werden gute Alternativen zu bereits vorhandenen darstellen.
Mitte Mai wurde in mehreren Stadtteilen Havannas mit der Immunisierung Tausender begonnen. Wie ist die »Gesundheitsintervention« mit den Vakzinen »Abdala« und »Soberana 2« angelaufen?
Hochrisikogruppen und Bewohner besonders von der Pandemie betroffener Stadtteile der Hauptstadt werden geimpft. Dabei handelt es nicht um eine klinische Studie, sondern um eine sogenannte Gesundheitsintervention. Ziel ist es, das Risiko von schweren Verläufen in besagten Bevölkerungsgruppen zu minimieren und das Infektionsgeschehen im Land unter Kontrolle zu bekommen. Das ist eine Maßnahme, die das Ministerium für öffentliche Gesundheit anordnen kann – wie es das auch in der Vergangenheit schon getan hat, wenn eine große Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung bestand.
In Anbetracht der Tatsache, dass die klinischen Studien in Phase eins und Phase zwei sowie die Erkenntnisse aus den Interventionsstudien in bezug auf die Sicherheit der Impfstoffpräparate »Abdala« und »Soberana 2« gute Ergebnisse gebracht haben, gerade was die Entwicklung ausreichender Mengen an Antikörpern betrifft, hat das Ministerium für öffentliche Gesundheit die Entscheidung getroffen, Teile der Bevölkerung zu immunisieren. Trotzdem befinden sich die beiden Vakzine weiterhin in der Studienphase drei.
Während es in anderen Ländern, unter anderem hier in der BRD, durchaus sogenannte Impfskeptiker gibt, scheint sich in Kuba die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen das Coronavirus impfen lassen zu wollen. Wie ist das hohe Vertrauen der Bevölkerung in das Impfprogramm zu erklären?
Impfungen sind in Kuba freiwillig. Wir schützen unsere Bevölkerung seit vielen Jahren mit unterschiedlichsten Vakzinen. Bereits vor Jahren haben uns die WHO und die Panamerikanische Gesundheitsorganisation bescheinigt, dass unser Impfsystem eine große Gruppe übertragbarer Krankheiten in unserem Land praktisch ausgerottet hat. Andere, die nicht vollständig eliminiert werden konnten, wie beispielsweise Hepatitis B, werden bei uns kontrolliert.
Diese Erfolge haben dazu geführt, dass die Zustimmung der kubanischen Bevölkerung zu unserem Impfsystem sehr hoch ist. Warum sollte sich das bei Covid-19 nun ändern? Die kubanische Bevölkerung ist gut informiert und verfügt über ein ausgeprägtes Bewusstsein. Sie weiß, was es für eine Person bedeutet, Zugang zu einem sicheren und kostenlosen Impfstoff zu haben. Hinzu kommt, dass unser Gesundheitssystem garantiert, dass den Patienten auch nach der Verabreichung der Impfstoffdosen die volle Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zudem ist den Menschen bewusst, dass die Präparate eine große Chance für uns bieten, das Land von der Geißel Covid-19 zu befreien.
Laut Gesundheitsminister José Angel Portal sollen bis August 70 Prozent der kubanischen Bevölkerung immunisiert werden können. Auch der Präsident von Bio-Cuba-Farma, Eduardo Martínez Díaz, geht davon aus, dass bis August die notwendige Menge an Impfstoffen zur Verfügung steht. Bis Ende des Jahres soll die ganze kubanische Bevölkerung immunisiert sein. Halten Sie diese Zielvorgaben für realistisch?
Wir arbeiten systematisch, gründlich und professionell, so dass wir noch in diesem Jahr mehr als 100 Millionen Impfstoffdosen produzieren können. Wir werden in der Lage sein, unsere Bevölkerung zu impfen, und im August sollten wir nahe an 70 Prozent oder mehr der Bevölkerung sein. Am Ende des Jahres wird die gesamte Bevölkerung geimpft sein.
Kuba hat nicht nur die Impfstoffe entwickelt. Auch die gesamte Produktion wird auf der Insel konzentriert sein. Welche Rolle spielt Bio-Cuba-Farma?
Die Bio-Cuba-Farma-Unternehmensgruppe ist das Zentrum der Impfstoffproduktion – ebenso wie auch der Produktion der Mittel zur Diagnostik, der Probenentnahmesysteme, der Transportsysteme, der Ausrüstung für alle therapeutischen Systeme, die bei der Behandlung von Covid-Patienten eingesetzt werden. In diesem Sinne spielt Bio-Cuba-Farma eine entscheidende Rolle, gemeinsam mit Institutionen des Ministeriums für öffentliche Gesundheit, mit denen es sehr eng zusammenarbeitet, der Universität von Havanna, Abteilungen des Industrieministeriums sowie weiterer Institutionen. Diese gemeinsame Anstrengung garantiert, dass die Interessen unseres Landes, der kubanischen Bevölkerung an erster Stelle stehen.
Seit einigen Wochen wird wieder vermehrt über die Aufhebung der Patente für Impfstoffe gegen Covid-19 gesprochen. US-Präsident Joseph Biden erklärte jüngst seine Unterstützung dafür, die deutsche Bundesregierung stellt sich hingegen weiter gegen die Freigabe. Wie stehen Sie und Kuba zu einem solchen Schritt?
Es gibt mehrere Wege, die Produktion von Impfstoffen anzukurbeln. Einer davon ist die Freigabe der Patente; dadurch kann es günstiger werden, Vakzine an anderen Orten herzustellen. Allerdings müssen dort auch die industriellen Kapazitäten existieren, zudem erfordert die Produktion von Impfstoff gut ausgebildetes Personal. In der jetzigen Pandemiesituation haben wir nicht die Zeit, die uns sonst zur Verfügung stand. Früher konnte man sich drei, vier, fünf Jahre Zeit lassen, um Anlagen einzurichten, Personal zu schulen und so weiter. Jetzt aber ist in kürzester Zeit ein industrieller Betrieb erforderlich. Auch wenn also die Patente zur Verfügung gestellt würden, würde dies in vielen Fällen nicht ausreichen, um das Problem des Impfstoffmangels zu beheben.
Im Gegensatz zu den in kapitalistischen Ländern entwickelten und produzierten Impfstoffen wurden die kubanischen Präparate nicht mit dem Ziel entwickelt, mit ihrem Verkauf Profit zu generieren. Besonders für ärmere Länder im globalen Süden könnten sie daher eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Coronapandemie spielen.
Zum Selbstverständnis Kubas gehört, soviel beizutragen, wie wir können, soviel, wie machbar ist, und sogar das zu teilen, was wir haben. Wir werden uns natürlich im Rahmen unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten daran beteiligen, dass auch Menschen in anderen Ländern geimpft werden können. Vertreter verschiedener lateinamerikanischer Länder, insbesondere Argentinien, Venezuela, aber auch afrikanische Länder haben von Anfang an ihr Interesse bekundet. Die Islamische Republik Iran ist auch am gesamten Entwicklungsprozess interessiert und hat sogar bereits damit begonnen, im eigenen Land eine klinische Studie mit den kubanischen Impfstoffen durchzuführen.
Die Namen der einzelnen Präparate deuten auf den engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Impfstoffe und der kubanischen Geschichte.
Ja, die Namen der Impfstoffe sind sehr stark mit Charaktereigenschaften unseres Landes, unserer Heimat verbunden. Das ist bei »Soberana« der Fall (deutsch: die Souveräne, jW), ebenso bei »Abdala« (Titel eines Gedichts des kubanischen Nationalhelden José Martí, jW) und »Mambisa« (Bezeichnung für Kämpfer im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien im 19. Jahrhundert, jW). Die Namensgebung zeigt: Die Impfstoffe sind für uns Kubaner mehr als nur das, sie sind der lebendige Ausdruck eines Volkes, das für seine Freiheit, aber auch für die Freiheit seiner vielen Brüder und Schwestern kämpft, gekämpft hat und kämpfen wird.
Luis Herrera ist wissenschaftlich-kommerzieller Berater des Präsidenten der kubanischen Unternehmensgruppe Bio-Cuba-Farma. Er ist promovierter Mediziner und Biologe der Universität von Havanna und gilt als Schöpfer der methodischen Basis für die Ausbildung der heutigen Generation kubanischer Biotechnologen.